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Jeder sprach hier Gebärdensprache !

Nora Ellen Groce: Jeder sprach hier Gebärdensprache
Nora Ellen Groce: Jeder sprach hier Gebärdensprache. Erblich bedingte Gehörlosigkeit auf der Insel Martha's vineyard. Signum Verlag (Seedorf) 2006. 2., durchgesehene Auflage. 162 Seiten. ISBN 3-927731-97-8. 16,50 EUR.
Aus dem Amerikanischen von Elmar Bott. Reihe: Internationale Arbeiten zur Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser, Band 4.

Thema
Martha's Vineyard, eine Insel vor Massachusetts, ist eines der großen Identifikationsobjekte sowohl gehörloser Menschen als auch derjenigen hörenden Menschen, die sich für bilinguale Bildung Gehörloser einsetzen. Dementsprechend ist das Buch von Nora Groce ein Klassiker, dessen deutsche Übersetzung nun in zweiter Auflage vorliegt.

Thema des Buchs ist die Aufarbeitung einer vergangenen, einer "guten alten" Zeit, die mit Hilfe der Befragung älterer Gewährspersonen, sowie von Archivmaterial und Literatur erfolgt. "Jeder sprach hier die Gebärdensprache" beinhaltet in dieser Hinsicht also durchaus die Gefahr der Romantisierung. So ist auf der Buchrückseite zu lesen:

die Sehnsucht nach einem Ort, in dem Hörende und gehörlose ihr Leben teilen, miteinander sprechen und einander respektieren, ist eng mit dem Namen der Insel verknüpft.

Dass diese Romantisierung nicht zustandekommt, ist der durchaus auch gegenüber eigenen Methoden distanzierten Autorin und ihrer relativ trockenen, methodenbewussten Forschungshaltung zu danken, zu der freilich das Engagement für die "bilinguale Sache" tritt, was z.B. aus den Schilderungen zur Diskriminierung Gehörloser zur Berichtszeit deutlich wird.

Die historischen Fakten sind kurz folgende: Etliche Einwandererfamilien des 17. und 18. Jahrhunderts wiesen genetisch bedingte Gehörlosigkeit auf. Aufgrund der Isolation auf einer Insel ergab sich ein recht hoher Anteil gehörloser Menschen. Und es scheint, dass sich die Inselbewohner nicht in einen hörenden und einen gehörlosen Teil spalteten, sondern eine mehr oder weniger zweisprachige Gemeinschaft bildeten. Mit den sozialen Veränderungen des 19. Jahrhunderts (Industrialisierung, erhöhte Mobilität) verschwand diese Gemeinschaft allmählich (die letzte gehörlose Person starb dort im Jahr 1952). Um die Dimensionen anzudeuten: Bei einer Bevölkerung von etwa 400 Menschen um 1700 und etwa 3000 um 1800 schwankte der Anteil gehörloser Bewohner je nach Region zwischen knapp einem und maximal vier Prozent.

Inhalt
Einer kurzen Einleitung bezüglich verschiedener anthropologischer Perspektiven auf Gehörlosigkeit folgt die Geschichte von Martha's Vineyard als ehemals bedeutendem Ort für Fischer, Walfang und Schifffahrt. Dann werden die Ursprünge der Gehörlosigkeit (und die verschiedenen dazu formulierten Theorien) auf der Insel beschrieben (die Situation auf der Insel hatte ja schon Alexander Graham Bell um 1880 zu intensiven Forschungen motiviert); insbesondere die wahrscheinliche gemeinsame Abkunft von puritanischen Bewohnern der englischen Grafschaft Kent zusammen mit der Isolation der Population. Dem folgen die Gründe für das Ende der starken gehörlosen Minderheit auf Martha's Vineyard.

Aus historischen Belegen und Befragungen wird die "Anpassung der Insel an die Gehörlosigkeit" beschrieben, insbesondere die Einstellungen der Menschen, speziell in Kontrast zu den - oftmals vorurteilsbehafteten - Haltungen am Festland. Hierbei wird auch die generelle Geschichte der Einstellungen zur Gehörlosigkeit (im Wesentlichen eine der Missverständnisse und der Diskriminierung) erörtert. Ein weiteres Kapitel schildert die Sozialisation gehörloser Menschen auf Martha's Vineyard ausführlich. Das Schlusswort trägt bezeichnenderweise den Titel "Diese Menschen waren nicht behindert".

Im Nachwort zur ersten deutschen Ausgabe von 1990 wird die Veränderung von Martha's Vineyard zu einer Ferieninsel geschildert. Im Anhang werden mündliche und schriftliche Quellen bzw. ihre Verwendung in der Forschung erörtert, weiters sind ausführliche Informationen zu den frühen Theorien über Gehörlosigkeit in Martha's Vineyard abgedruckt; Literatur-, Namens- und Stichwortverzeichnis sind angeschlossen. Anmerkung 3 auf S. 125 gibt Literaturhinweise auf ähnliche Fälle wie Martha's Vineyard.

Diskussion
Die Botschaft des 1985 erstmals veröffentlichten Buchs ist klar: Hörende darauf aufmerksam zu machen, dass eine bilinguale Gemeinschaft mit Gehörlosen möglich ist. Diese Ansicht war im Erscheinungsjahr des Buchs und zur Zeit seiner ersten deutschen Übersetzung noch durchaus weniger weit verbreitet als heute. Aus diesem Grund finden sich einige grundlegende, heute fast Allgemeingut gewordene Aussagen im Buch quasi als aktuelle Information.

Im Forschungsbereich werden genaue Familiengeschichten - soweit sie sich erheben ließen - geschildert und interpretiert, ebenso Einzelheiten aus dem Sozialleben, wie Heiratsmuster. Trotzdem bleiben aufgrund der Datenlage und der angewandten Methoden verschiedene wichtige Dinge, die aus der Sprachperspektive interessant wären, im Dunklen: Wieviel und was wurde in verschiedenen Situation von verschiedenen Menschen oder Gruppen wirklich gebärdet? Die mündliche Geschichte weist wohl darauf hin, dass es sich - zumindest in einigen Familien bzw. Regionen um eine recht weitgehende bilinguale Kommunikation gehandelt hat, wenn auch im Kontext teilweise karger Lebensumstände und relativ niedriger Bildung. So wird berichtet, dass manche Kinder die Gebärdensprache zum Teil vor der gesprochenen Sprache erlernten bzw. tatsächlich zweisprachig aufwuchsen. Ein weiteres Indiz für das relativ natürliche Verhältnis zu beiden Sprachen ist, dass sich manche Menschen des Wechsels der Sprachen in der Kommunikation (code switching) nicht wirklich bewusst waren, ebenso wie die öffentliche Verwendung der Gebärdensprache z.B. in der Kirche. Es gibt auch Erzählungen über Menschen, denen es peinlich war, die Gebärdensprache nicht ausreichend zu beherrschen.

Andererseits gab es nie Unterricht in Gebärdensprache und es traten "Schwierigkeiten bei der Kommunikation" auf (S. 55). Auf S. 65 wird auch eine Geschichte wiedergegeben, die zeigt, dass Gehörlose manchmal doch als ein bisschen "bedauernswert" angesehen wurden.

Bemerkenswert (wenn auch verzeihlich) ist, dass die in der Berichtszeit ebenfalls als noch beachtenswerte Minderheit auf der Insel vorhandenen Indianer nicht in den Genuss einer Bemerkung bezüglich einer auf sie hin orientierten Mehrsprachigkeit kommen.

Fazit
Das Buch bietet vielfältige, bunte Geschichtstupfen und ist als ein Beispiel für eine sorgfältige soziolinguistische Studie mit daraus folgenden sozialen Empfehlungen heute noch lesenswert.


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Rezensent
Prof. Dr. Franz Dotter
Sprachwissenschaftler, Leiter des "Zentrums für Gebärdensprache und Hörbehindertenkommunikation" der Universität Klagenfurt
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